Provokant, oder? Aber es steckt ein wahrer Kern in dieser Aussage, denn Gerechtigkeit ist ein fundamental wichtiger Wert in unserer Demokratie und gleichzeitig einer der schwersten zu erreichenden. Selbst die Gründerväter und -mütter hatten so ihre Schwierigkeit damit. Einerseits wird Gerechtigkeit proklamiert und ein sozialer Staat gefordert, gleichzeitig gibt es keine Definition im Grundgesetz, was gerecht und sozial ist. Und so beschäftigen sich Gerichte und Richter stets von Neuem damit, was es bedeutet, gerecht zu sein.
Ist Gerechtigkeit angeboren oder angelernt?
Versuche zeigen, dass bereits kleine Kinder als auch Primaten eine Vorstellung von Gerechtigkeit haben. Das Bedürfnis von Fairness in unserem sozialen Gefüge scheint somit tief in uns verankert. Aber wie die Gerechtigkeit dann konkret aussieht, lernen im Rahmen unserer Sozialisation. Dabei kann es sehr unterschiedliche Maßstäbe von Gerechtigkeit geben, die kulturell unterschiedlich sind.
- Wenn ich in einer Leistungsgesellschaft lebe, in der das Individuum einen hohen Stellenwert hat, neige ich eher zum Verständnis der Leistungsgerechtigkeit, d.h. im Zweifel für die Person, die am meisten Leistung erbracht hat.
- Lebe ich in einer stark bedürfnisorientierten Gesellschaft, in der das Kollektiv einen hohen Stellenwert hat, neige ich eher zum Verständnis der Verteilungsgerechtigkeit, d.h. im Zweifel für die Person, die das höchste Bedürfnis hat.
Beispiel: Wer bekommt den Vogel?
Ein Vogel wird gerettet von drei Personen. Eine Person hat ihn zuerst gefunden und die Rettung eingeleitet, eine Person liebt Vögel und hatte noch nicht die Gelegenheit, sich um einen Vogel zu kümmern und die dritte Person hat Vögel als Hobby. Wer soll nun den Vogel bekommen? In einer Leistungsgesellschaft würde die erste oder die dritte Person bevorzugt, in einer bedürfnisorientierten Gesellschaft eher die zweite Person.
Das Beispiel zeigt, dass es nicht DIE Gerechtigkeit als alleinige Wahrheit gibt. Gerechtigkeit ist immer ein Austarieren zwischen zwei Polen und basiert auf einem Vergleich. Und so können gerechte Entscheidungen von den einen als unfair werden und von anderen als höchst zufriedenstellend wahrgenommen werden.
Gerechtigkeit wird auch oft mit der Vorstellung von Gleichheit wahrgenommen. Ja, alle Beteiligten müssen im Sinne der Regeln gleichgestellt sein, d.h. gleichen Zugang zur Schiedsbarkeit haben und dort auch als gleichberechtigt wahrgenommen werden. Doch am Ende heißt es nicht, dass eine Gleichbehandlung auch gerecht ist. Eher gilt der Grundsatz:
Gleiches wird gleich und Ungleiches wird ungleich behandelt.
Bespiel: Alle Schüler und Schülerinnen einer Klasse sind gleichwertig und der Lehrer bzw. die Lehrerin geben allen die gleichen Chancen, um am Unterricht teilzunehmen. (Gleiches wird gleich behandelt). Gibt es bei den Schüler*innen jedoch ein Kind mit Lern- oder Sprachschwierigkeiten oder einer Behinderung, wird dieses Kind extra gefördert. (Ungleiches wird ungleich behandelt)
Und diese Ungleichbehandlung wird von den Teilnehmenden dann auch als gerecht empfunden, wenn sie die Hintergründe verstehen und sie selbst dabei nicht ins Hintertreffen geraten. Und schon sind wir wieder in einem Abwägungsprozess von Gerechtigkeit.
In diesem Sinne, Dein Tugendvogel-Redaktionsteam
Gerechtigkeit zum Nachlesen
- Grundgesetz Art. 1 (2): Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.
- Grundgesetz Art. 20: Die Bundesrepublik Deutschland ist ein sozialer Bundesstaat.
- Ist Gerechtigkeit anerzogen oder geerbt? – Das Experiment
- Die ARD Themenwoche „Gerechtigkeit“
- Was ist Gerechtigkeit? Fünf Juristen eine Frage – vom Studenten zum Notar (mein Vater) | Herr Anwalt „Der Erklärfilm“ ab 2:51