Die Jugendlichen der Seituna-Moschee in Charlottenburg haben Berliner Geschichte erkundet. Dass hier Geflüchtete und Berliner, Mädchen und Jungen zusammen lernen und Spaß haben ist hier ganz selbstverständlich. Es ist eines von vielen Projekten, das im Rahmen von „Extrem Demokratisch – Muslimische Jugendarbeit stärken“ entwickelt wurde.
Julia Gerlach
„Unser wichtigstes Ziel war es, den Jugendlichen Mut zu machen und ihnen neue Hoffnung zu geben“, beschreibt Renata M.. Sie schiebt Tische zusammen. Ihre Kollegin Sulaima Y. bringt Kekse und Getränke. Gemeinsam haben sie im vergangenen Jahr das Projekt „Kieztour – Wo lebe ich?“ ins Leben gerufen. Mit einer Gruppe von Jugendlichen – zum Teil Geflüchtete aus Syrien, zum Teil Jugendliche, die schon länger in der Seituna-Moschee-Gemeinde aktiv sind – haben sie den Bezirk Charlottenburg-Wilmersdorf erkundet und sich mit der Berliner Geschichte beschäftigt.
„Die Berliner Vergangenheit und ganz besonders der Wiederaufbau nach der totalen Zerstörung 1945 sind gut geeignet, um Menschen Mut zu machen: Wenn es in Berlin geklappt hat, kann es auch in Syrien klappen. Warum nicht?“, so Sulaima Y.
Teufelsberg, Bunkertour durch die Berliner Unterwelten, Rathaus Charlottenburg: Im Rahmen des Projektes „Kieztour – Wo lebe ich?“ haben die beiden Frauen gemeinsam mit einer Gruppe von 17 Jugendlichen zahlreiche Ausflüge unternommen. „Auch für uns war es spannend. Obwohl wir schon lange in Berlin leben, haben wir doch viele Sachen entdeckt und Informationen bekommen, die uns neu waren“, so Sulaima Y.
Besonders hat ihr der Besuch beim Bürgermeister von Charlottenburg gefallen. „Er hat sich viel Zeit für uns genommen und wir haben das Rathaus bis zur Turmspitze erkundet“. Sie legt Papierservietten bereit. Heute werden die Jugendlichen, die an dieser Gruppe beteiligt haben, zum Abschlusstreffen erwartet. Es geht darum auszuwerten: Was war gut? Was fehlte? Und welche Tipps würden sie anderen Gruppen geben, die ein ähnliches Projekt planen?
Da kommen schon die ersten. „Wie geht’s? Salamu Aleikum!“ Noch während die beiden Frauen die beiden Mädchen begrüßen, kommen die nächsten Jugendlichen. Sechs Mädchen und drei Jungen nehmen am Tisch Platz. Kekse und Getränke machen die Runde. Die Jugendlichen sind zwischen 14 und 19 Jahre alt. Was sie verbindet ist ihr Interesse an Religion, besuchen sie doch alle auch Jugendgruppen der Moschee, und ihre Herkunft. Alle haben syrische Wurzeln. Allerdings sind einige von ihnen, so wie die 16 und 17jährigen Schwestern Nadida und Raghad erst vor vier Jahren aus Syrien nach Deutschland gekommen. Die 14jährige Maryam ist sogar erst zwei Jahre hier. Andere, so wie die 14jährige Bayan und ihre beiden älteren Brüder Ammar und Jaffar leben schon ihr ganzes Leben in Berlin. Die einen haben ihre Kindheit in Syrien verbracht, haben Krieg und Flucht erlebt und wurden dann in ein neues Leben in Deutschland geworfen. Die anderen sind in Berlin aufgewachsen und kennen Syrien nur aus Erzählungen der Eltern und aus der Erinnerung, weil sie vielleicht vor vielen Jahren dort zu Besuch waren. Dafür kennen sie sich gut damit aus, was es bedeutet, als muslimische Jugendliche in eine Schule in Deutschland zu gehen. „Natürlich geht es bei diesem Projekt auch darum, dass die einen Jugendlichen ihr Deutsch verbessern und die anderen ihr Arabisch nicht vergessen, sie Erfahrungen austauschen und voneinander lernen“, beschreibt Sulaima Y.
„Dieser Kulturaustausch passiert aber eher nebenbei. Im Vordergrund steht das Entdecken Berlins und das Erkunden der Umgebung“, sagt sie.
Inzwischen ist der Computer hochgefahren. Der Beamer wirft Bilder an die Wand: Die Mädchen posieren auf dem Teufelsberg. Ein Bild der ganzen Gruppe mit dem Bürgermeister von Charlottenburg-Wilmersdorf und gleich darauf Schnappschüsse von den Jugendlichen auf der Eisbahn. Viele Eindrücke. Was war das Beste?
„Für mich waren die Gespräche mit den Zeitzeugen am spannendsten“, beschreibt Raghad: „Es ist eine Sache, ob man im Geschichtsunterricht über den zweiten Weltkrieg, die Zerstörung und den Wiederaufbau lernt oder ob man einer Person zuhört, die selber diese Zeit erlebt hat und davon erzählen kann“. Sie fand auch den Besuch in der Bunkerwelt unter Berlin sehr interessant. Dort habe sie sich vorstellen können, wie die Menschen sich damals gefühlt haben.
Für viele der Kieztour-Jugendlichen waren die Ausflüge aber auch in anderer Hinsicht etwas ganz Besonderes: „Ich habe eigentlich sonst keine Freizeit. Ich gehe zur Schule, zur Nachhilfe und zum Schwimmkurs“, beschreibt Maryam. Ihren Eltern sei es sehr wichtig, dass sie schnell gut Deutsch lernt und in der Schule erfolgreich ist. Für Freizeit mit Freundinnen bleibt da kaum noch Zeit. „Ich fand den Ausflug zum Schlittschuhlaufen und natürlich unserer Pizza-Party am besten“, sagt sie. „Die Mischung macht‘s“, fasst Renata M. zusammen und damit sind die Jugendlichen dann auch schon bei den Tipps angekommen, die sie anderen Jugendgruppen geben können, die ähnliche Projekte planen. „Es ist ganz wichtig, dass sich Museumsbesuche und ernste Themen mit Spaßsachen abwechseln“, sagt Ammar. „Man sollte auf jeden Fall auf das Alter der Teilnehmenden achten: Wenn sie so alt sind wie wir oder vielleicht sogar noch ein bisschen älter, dann ist unser Programm gut geeignet. Wenn sie jünger sind, dann sollten eher Besuche auf Spielplätzen und Bauerhöfen mit eingeplant werden“. Gut geeignet seien Moscheegemeinden, in denen es viele Jugendliche und viele Geflüchtete gibt. Wichtig sei auch, dass es genug Zeit und Gelegenheit für gemeinsames Essen und zum Reden gebe: „Man braucht auch etwas Geld: Solche Veranstaltungen können auch mit einem kleineren Budget organisiert werden, aber für uns war es wichtig, dass zu jedem Ausflug auch ein gemeinsames Essen gehörte“, so Renata M.. Das Projekt Kieztour fing daher auch mit einem Kuchenverkauf an: Die Jugendlichen brachten Selbstgebackenes mit und verkauften es in der Moschee. Zudem erhielten sie Unterstützung und Förderung durch das Projekt „Extrem Demokratisch – Muslimische Jugendarbeit stärken“ der RAA Berlin und der Partnerschaft für Demokratie des Bezirks Charlottenburg-Wilmersdorf. Wichtig sei zudem, den Jugendlichen möglichst viel Mitspracherecht zu geben: „Wir haben zwar die Ziele der Ausflüge vorgegeben, weil wir eben auch wollten, dass die Jugendlichen sich mit der Geschichte beschäftigen. Wir haben sie aber selber entscheiden lassen, wohin wir die Spaß-Ausflüge machen. Sie waren auch dafür verantwortlich, die Abschlussfeier zu organisieren“, erzählt sie.
Das Projekt „Kieztour – Wo lebe ich?“ ist beendet, doch die Jugendlichen treffen sich weiter. Die Jungen versammeln sich in der Jungengruppe, die Mädchen kommen zum Mädchentreff. Sie beschäftigen sich mit religiösen Fragen und diskutieren, wie sich ihr Glaube mit dem Leben in einer mehrheitlich nicht-muslimischen Gesellschaft in Einklang bringen lässt. Dass in diesen Gruppen ganz selbstverständlich Geflüchtete und nicht-Geflüchtete zusammenkommen, finden sie ganz normal:
„Wir sind doch gleich“, sagt Bayan: „Was macht es für einen Unterschied, ob man nun in Syrien, Deutschland oder China aufgewachsen ist?“.
Auch einige der anderen sind sichtlich irritiert, dass in der öffentlichen Debatte über Integration das Thema Islam und das Zusammenleben von Geflüchteten und Nicht-Geflüchteten vor allem als Problem gesehen wird: „Wir leben doch ganz normal zusammen und unterhalten uns über das, was im Alltag passiert. Da ist es doch wirklich egal, wo man herkommt“, sagt Raghad.
Und was haben sie als nächstes vor? „Die Geschichte Berlins ist richtig spannend und wir würden uns gerne weiter damit beschäftigen“, so Nadida. Vielleicht, so ergänzt Bayan, könnte man einmal mit Menschen in einem Seniorenheim sprechen. „Vielleicht könnten wir aus den Gesprächen über Krieg und Flucht in Deutschland ein Theaterstück machen“, so Renata M. Ein ähnliches Projekt hat eine Jugendgruppe in Heilbronn bereits begonnen. Hier zeigt sich, wie wichtig die Unterstützung durch „Extrem Demokratisch – Muslimische Jugendarbeit stärken“ der RAA Berlin für die Gruppe war. Nicht nur, dass sie dabei unterstützt wurden, eigene Gelder zu beantragen für Eintrittskarten und Pizza, sie stehen auch im Austausch mit ähnlichen Jugendprojekten, können von den Erfahrungen der anderen lernen: Ideen aufgreifen – Erfolgstories weitergeben. Die Kieztouren der Jugendlichen der Seituna- Moschee sind eines von vielen Beispielen für erfolgreiche Zusammenarbeit.