Mädchen und junge Frauen brauchen Vorbilder. Frauen, die stark, klug und von der Gesellschaft angesehen sind, an denen sie sich orientieren können. Doch wen nimmt man da? Für muslimische Frauen, die in Deutschland leben, ist diese Frage ganz besonders schwierig. Oft passen die Rollenbilder, die Mädchen in der islamischen Welt vorgegeben werden, nicht so recht, aber die Vorbilder der Mehrheitsgesellschaft sind auch ungeeignet. Um dies zu ändern, hat sich eine Gruppe von engagierten jungen Frauen aus der muslimischen Jugendarbeit, die sich schon seit längerem im Projekt „Extrem demokratisch – muslimische Jugendarbeit stärken“ der RAA Berlin mit dem Thema befassen, mit Wissenschaftlerinnen und Lehrerinnen zusammengetan. Sie wollen interessante Frauen aus der islamischen Geschichte wiederentdecken und Rollenbilder entwickeln, die in die heutige Zeit und zum Leben in der modernen Gesellschaft passen. So etwas geht natürlich nicht von heute auf morgen, sondern braucht Vorbereitung und viel Reflektion. Entstanden ist das Projekt aus einem intensiven Empowerment- und Kommunikationsworkshop, der von der Landeszentrale für Politische Bildung gefördert wurde..
Geleitet wurde dieser Workshop von der Verhaltens- und Kommunikationstrainerin Fatma Erol Kilic (38). Gemeinsam mit Hafssa (26) und Hilal (26), die beide aus der muslimischen Jugendarbeit kommen und an dem Workshop teilgenommen haben, erklärt sie, was das Besondere an diesem Ansatz ist und was dies mit den Rollenbildern zu tun hat.
Interview Julia Gerlach
Frage: Der Workshop hieß „Kommunikation der Macht“ Was genau habt ihr gemacht und welches Ziel verfolgt ihr?
Fatma Erol Kilic: Viele muslimische Frauen brauchen Empowerment. Als Mehrfachdiskriminierte in dieser Gesellschaft haben sie hier einen besonders großen Bedarf. Wir haben einen neuen Ansatz und gehen mit Kommunikationstechniken und aus dem Blickwinkel der Macht an die Sache heran. Das sind Herangehensweisen aus der Berufswelt. Frauen in Führungsfunktionen lassen sich oft für viel Geld in Coachings weiterbilden. Ich habe mir das angeschaut und war begeistert.
Kannst Du ein bisschen genauer die Methode beschreiben?
Fatma Erol Kilic: Wenn wir mächtig kommunizieren können, haben wir es im Beruf, in unserem Engagement und auch im Privaten sehr viel leichter. Es ist eher eine Haltung als eine vorgegebene Methode. Im Workshop haben wir zunächst, die verschiedenen Kommunikationsarten von Männern und Frauen herausgearbeitet. Dass Frauen eher in Netzwerken denken und Männer in Hierarchien. Ein „stereotypischer Mann“ betritt einen Raum und für ihn geht es um Machtspiele und -kämpfe. Eine „stereotypische Frau“ will in der Regel eher teamorientiert arbeiten und lieber keine Konflikte auslösen. Lieber steckt sie ein. Davon ausgehend haben wir dann Situationen analysiert und im nächsten Schritt im Rollenspiel Strategien entwickelt und Kommunikationsformen ausprobiert.
Eine „stereotypische Frau“ will in der Regel eher teamorientiert arbeiten und lieber keine Konflikte auslösen. Lieber steckt sie ein.
Könntest Du ein Beispiel geben?
Fatma Erol Kilic: Es beginnt beim Vorstellen. Es macht einen Unterschied, ob man sagt: „Und dann habe ich promoviert“ oder „Ich bin Professor Fatma….“. Statt zu sagen: „Also, ich würde dann vielleicht vorschlagen, wollen wir nicht?“ sagt man: „Hört zu, ich schlage vor, wir machen das jetzt so!“ Klare Ansage. Wir haben sehr viel auf die sogenannten „Weichmacher“ geguckt, die wir Frauen oft benutzen: so wie „etwas“, „im Prinzip“, „vielleicht“. Da sage ich etwas und bremse die Aussagekraft gleich wieder aus. Es kommt aber auch darauf an, wann man etwas sagt.: Wir haben Gesprächssituationen analysiert. Oft geht es in den ersten fünf Minuten eines Meetings nur darum, Hierarchien zu sortieren. Wenn man da seine Idee einbringt, wird sie zerrissen oder von Männern übernommen, die diese dann als ihre eigenen ausgeben. Wenn man diese Mechanismen erkennt, kann man damit umgehen, mitspielen.
Und was ist der Unterschied zu herkömmlichen Empowermentansätzen?
Hilal A.: Empowerment bedeutet ja, dass man sich darüber bewusst wird, welche Machtverhältnisse und Dynamiken es in der Gesellschaft gibt und wie man damit umgehen kann. Damit einher geht auch, sich bewusst zu werden, welche Kraft eigentlich in einem steckt, die einem sonst abgesprochen wird. Die Besonderheit unseres Ansatzes ist die Zielgruppe, die wir ansprechen möchten und die Kombination aus Kommunikationsstrategien, historischen Ansätzen und praktischen Erfahrungen. Ich bin Lehrerin und unterrichte interkulturelles Lernen und Sexualkunde. Meine Schülerinnen – die meisten sind Musliminnen – zu empowern ist meine Hauptaufgabe. Wenn sie Schwierigkeiten haben, ihre Ziele zu erreichen, sehen sie die Schuld oft bei sich. Dabei sind es gesellschaftliche Dynamiken, die einen großen Einfluss haben. Wenn sie erkennen, dass nicht sie das Problem sind, können sie selbstbewusst gegen die Dynamik angehen und die Situation ändern. Ihre Herausforderungen nur aus muslimischer oder nur aus weiblicher Perspektive zu betrachten würde die Realität nicht richtig darstellen. Deshalb ist unser Ansatz so wichtig.
Was hat Dich an dem Ansatz besonders angesprochen?
Hilal A.: Ich konnte mich in vielen Situationen, die wir besprochen haben, wiederfinden. Mir ist es einmal in einem Meeting passiert, dass ein Mann meine Idee geklaut und sie als seine präsentiert hat. Ich bin dazu erzogen, in so einer Situation nichts zu sagen und stand als ideenlos dar. Dass der Mann das machen konnte, liegt an der Macht, die er sich genommen hat. Die er sich aber nur nehmen kann, weil wir ihn lassen.
Hafssa E.: Bei unserem Ansatz geht es um Kommunikation, aber es geht auch um die dahinterstehenden Machtstrukturen und Hierarchien im Job, ihm Ehrenamt und im Privaten. Ich bin Religionswissenschaftlerin und arbeite im jüdischen Museum. Ich arbeite viel mit muslimischen Jugendlichen. Seit unserem Workshop hatte ich mehrfach Aha-Erlebnisse: Wenn ich keine Weichmacher benutze, sondern klar mein Anliegen vortrage, dann hören die anderen besser zu und ich kann bis zum Ende sprechen.
Bei unserem Ansatz geht es um Kommunikation, aber es geht auch um die dahinterstehenden Machtstrukturen und Hierarchien im Job, ihm Ehrenamt und im Privaten.
Ist denn das ein Ansatz speziell für muslimische Frauen?
Fatma Erol Kilic: Nein, alle Frauen brauchen Kommunikation der Macht, aber muslimische Frauen eben ganz besonders. Die Mechanismen, nach denen die Machtspiele ablaufen, sind überall gleich. Viele meiner Beispiele kommen aus der Berufswelt, aber die Teilnehmerinnen haben sie schnell auch auf ihre Zusammenhänge in der muslimischen Community übertragen.
Aber gerade im Kontext Moschee ist es doch bestimmt anders. Ein Imam ist doch eine ganz besondere Respektsperson.
Fatma Erol Kilic: Ein Imam, dem man eine Kritik vortragen möchte, ist vergleichbar mit einem Vorgesetzten der höheren Hierarchieebene. Vergleichbar mit einem Hauptabteilungsleiter. Obwohl er eine Respektsperson ist, kommt es auf meine Art zu kommunizieren an. Welche Signale sende ich? Nehme ich mir die Zeit, mich hinzusetzen und vollständige Sätze zu bilden? Baue ich Weichmacher ein oder erkläre ich klar, was mein Anliegen ist? Da ist es irrelevant, ob es um ein Problem in der Moschee oder in der Firma geht. Unser Ansatz ist, dass man die Dinge klar benennt. Es ist ganz egal, wer vor einem steht.
Der Workshop „Kommunikation der Macht“ war der Anfang. Wie soll es jetzt weitergehen?
Fatma Erol Kilic: Am Ende des Seminars hatten wir alle das Gefühl, dass wir mit dem Thema noch nicht fertig sind. Männer gehen in einen Raum und spielen darin Rollen, sie kämpfen mit den anderen um die Macht. Wir Frauen haben mit solchen Spielen große Probleme. Wir versuchen, beim Kämpfen nett zu sein. Dadurch verlieren wir viele der Kämpfe und wir verlieren vor allem viel Energie und Ressourcen. Oft beobachten wir, dass Frauen auf die falschen Ressourcen setzen, weil sie teamorientiert arbeiten und gefallen wollen. Eine Teilnehmerin, eine toughe Hammerfrau, sagte: Egal, was ich mache, es wird immer auf mich als Person bezogen. Da sagt man dann: Die ist eine Zicke, die hat Haare auf den Zähnen, mit der kann man bestimmt nicht verheiratet sein. Bei Männern funktioniert das ganz anders. Da sagt man: Der ist stark. Der hat Charakter, der kann sich durchsetzen. Wir müssen also im nächsten Schritt an unserem Selbstverständnis und an unseren Rollenbildern arbeiten.
Und um welche Rollen geht es da?
Fatma Erol Kilic: Wir haben ja alle nicht eine, sondern sehr viele Rollen: Ich bin Mutter und Trainerin und Ehefrau und Tochter und Schwiegertochter und noch sehr viel mehr. Es gibt muslimische Rollenbilder. Sie sind zum Teil theologisch fundiert. Manches ist aber auch Tradition. Vieles ist gut, anderes passt nicht zu unserem Leben in einer modernen westlichen Gesellschaft. Ziel unseres Projektes ist es, passende alte Rollenbilder wiederzuentdecken, zusammenzutragen, zu untersuchen und weiterzuentwickeln.
Inwieweit sind es dann typisch muslimische Frauenbilder?
Fatma Erol Kilic: In vielen Punkten sind unsere Rollenbilder mit denen der Mehrheitsgesellschaft identisch. In einigen, aber entscheidenden Punkten unterscheiden sie sich jedoch. Was wir brauchen, ist ein Merger aus den verschiedenen Rollen. Aber, wenn ich dominant auftrete, dann sagen manche vielleicht: Was für eine Zicke. Wenn Du dich durchsetzt, heißt es von manchen sicherlich: Was ist das für eine schlechte Muslima.
Hafssa E.: Mehrfachdiskriminierung führt ja zu einer Verstärkung der Diskriminierung. Bei muslimischen Frauen kann dies zu einer Hyperfeminisierung führen. Da wird sie noch mehr als Frau wahrgenommen. Da kommen dann so Bemerkungen: Frauen aus dem Süden haben immer so viel Temperament. Oder es heißt: das Mädchen mit dem Kopftuch redet in der Schule immer so viel, weil ihr zu Hause bestimmt nicht richtig zugehört wird. Wenn Du als muslimische Mutter Karriere machst, dann kommen da noch mehr Bemerkungen als nur „Rabenmutter“. Mit Kopftuch gucken die Leute noch einmal stärker auf uns. Wie man da kommuniziert, ist deswegen noch mehr unter Beobachtung. Das merkt man natürlich und als Reaktion benutzen Musliminnen besonders viele Weichmacher, machen sich klein, damit niemand sie für radikal hält. Dabei ist genau das Gegenteil wichtig: Wir müssen klar unseren Standpunkt vertreten und nach außen strahlen, damit sich das Bild der muslimischen Frauen in der Gesellschaft ändert.
Mit Kopftuch gucken die Leute noch einmal stärker auf uns…und als Reaktion benutzen Musliminnen besonders viele Weichmacher, machen sich klein,…
Das ist aber eine ganz schön große Aufgabe.
Hafssa E.: Ja, ganz besonders, weil wir ja unter genauester Beobachtung stehen und unser Leben bis ins kleinste Detail ausgeleuchtet wird. Für alles müssen wir uns rechtfertigen und es erklären.
Oft werden da ja historische Vorbilder herangezogen. Frauen aus der islamischen Geschichte oder auch die Frauen des Propheten. Wieso? Ist es nicht lebensnäher, Vorbilder zu suchen, die heute leben und mit den gleichen Bedingungen umgehen müssen wie wir?
Hafssa E.: Das ist auch gut und unsere Trainerin Fatma ist zum Beispiel ein Vorbild für mich. Historische Vorbilder sind aber auch wichtig, wenn man gegen Rollenbilder argumentieren will, die uns aufgedrängt werden: Dass muslimische Frauen immer passiv sind, zum Beispiel. Da können wir sagen: Stimmt nicht: Aischa zum Beispiel, die Frau des Propheten war Wissenschaftlerin und ist auch in den Krieg gezogen. Damit ist für alle klar: Wir übernehmen nicht westliche Rollenbilder und außerdem: Weibliche Stärke ist mit dem Islam vereinbar.
Fatma Erol Kilic: Die wichtigste Quelle des Islam ist der Koran und das Leben des Propheten. Wenn wir uns auf Frauen aus seinem Umfeld beziehen, ist das ein wichtiges Argument.
Hilal A.: Unser Projekt, das von der Akademie für Islam in Wissenschaft und Gesellschaft gefördert wird, soll ein Brückenschlag aus der Wissenschaft in die Praxis sein. Es ist gar nicht so einfach, Informationen über historische Frauen zu finden. Viel Wissen wurde in der Kolonialzeit und auch schon davor verschüttet. Für uns hier im Westen ist es zudem nicht selbstverständlich, dass wir mit Primärquellen auf Arabisch und Persisch arbeiten können. Wir wollen die historischen Figuren herausstellen, Rollenvorbilder entwickeln und den Werterahmen, in dem diese sich bewegen. Dies unterstützt unsere Orientierung, wie wir unser Leben hier und jetzt gut leben können.