Ohne die Anderen geht es nicht in einer Demokratie
Aktuell sprechen alle über Rassismus und #Blacklivesmatter. Selbst hochrangige Politiker*innen haben erkannt, dass man mit einer Positionierung pro oder contra Aufmerksamkeit bekommt. Aber so wie das Thema aktuell auch in aller Munde ist, wird es nach ein paar Wochen wieder abflauen, so wie nach den Toten von Halle, von Hanau, von Solingen und den vielen anderen Opfern rassistischer Gewalt. George Floyd wird vergessen werden, so wie Oury Jalloh, der 2005 auf noch ungeklärte Weise in seiner Gefängniszelle verbrannte, so wie Habil Kilic, eines der Opfer der Terrorgruppe NSU, sowie Marwa El Sherbini …
Nein, Marwa El Sherbini ist seit Jahren nicht vergessen. Die junge Muslima, die sich gegen rechte Beleidigungen juristisch zur Wehr setzte und dann 2009 vor den Augen ihres Mannes und ihres kleinen Sohns im Gerichtssaal von Dresden vom Angeklagten 16mal niedergestochen wurde. Sie ist nicht vergessen, weil eine große Welle zivilgesellschaftlichen Engagements unter dem Dach der Claim Allianz jedes Jahr an ihrem Todestag, dem 1. Juli, den Aktionstag gegen antimuslimischen Rassismus ausruft.
Auch wir haben unsere Wertewoche bewusst in diesen Zeitraum gelegt, um auf einen elementaren Wert einer Demokratie aufmerksam zu machen:
Den Schutz von Minderheiten.
Eine Demokratie lebt von der Vielfalt ihrer Mitglieder. Nur im Aushandlungsprozess unterschiedlicher Meinungen, gelingt eine gesellschaftliche Reflexion und die Findung einer Lösung, die alle gesellschaftlich Beteiligten berücksichtigt. Zusätzlich bereichert sich die Entscheidungsfindung in diesem vielfältigen Austausch und kommt zu innovativen Lösungen, die in einer Gesellschaft der Mono-Meinung nicht denkbar gewesen wäre. Die Demokratie braucht also Vielfalt, um am Puls der Zeit zu bleiben, innovativ zu sein und zu wachsen. Umso wichtiger ist es, diese Vielfalt zu schützen und allen die Räume zu geben, die sie brauchen.
Gleichzeitig gibt es die Schwierigkeit, wie der Schutz all jener Minderheiten in einer Gesellschaft aussehen kann. Rechtlich gibt es nur ein paar wenige Bevölkerungsgruppen, die tatsächlich als Gruppe diesen Minderheitenschutz genießen können u.a. die Friesen oder Sorben. Sie gelten per Definition als nationale Minderheit.
Und was ist mit Homosexuellen, Muslimen oder Menschen mit Behinderung? An sie denkt man umgangssprachlich als Minderheit, aber sie sind als solche nicht anerkannt und können gegen Ungleichbehandlung und rassistisch motivierte Gewalt nicht als Gruppe ihr Recht geltend machen – hier muss jede*r Einzelne als Individuum gerichtlich vorgehen und sein Recht auf Gleichbehandlung einklagen.
Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstammung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen benachteiligt oder bevorzugt werden. Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. (Art 3.3 GG)
Dieses Recht basiert auf Art. 3 des Grundgesetzes bzw. auf dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz AGG. Und obwohl es im Grundgesetz verankert ist und ein eigenes Gesetz dazu vorliegt, das mit erheblicher Verspätung eingeführt wurde, ist es ein langer Weg, sich gegen Ungleichbehandlung und ihren vielen verschiedenen Facetten zu wehren.
Ungleichbehandlung beginnt in den Köpfen, und der Vorstellung davon, wie die Norm der Bürger*innen einer Gesellschaft aussieht. In Deutschland ist die Norm männlich, weiß, christlich, sportlich, nicht-behindert, 35 Jahre alt, Mittelschicht und heterosexuell. Die Norm stellt dabei nicht die tatsächliche Mehrheit der Gesellschaft dar z.B. gibt es in Deutschland mehr Frauen als Männer und doch ist Vorstellung des Durchschnittsdeutschen männlich.
Das Problem: Alle, die von dieser Norm abweichen erleben Ungleichbehandlung.
- So schaffen es Frauen seltener in Führungspositionen als Männer.
- Sind Frauen noch erkennbar Angehörige einer anderen Religion, Schwarz oder haben eine Behinderung fallen die Chancen auf Gleichbehandlung rapide weiter.
Schutz von Minderheiten fängt also in jedem unserer Köpfe an – und die vermeintliche Mehrheit, die weniger von Diskriminierung betroffen ist, trägt dabei eine größere Verantwortung, diese Gedankenmuster zu durchbrechen, als die ausgegrenzten Menschen selbst. Sie können demonstrieren, sie können vor Gericht ziehen, sie können auf sich aufmerksam machen – aber die Veränderung gelingt nur, wenn alle den Schutz von Minderheiten als Grundwert einer lebendigen Demokratie mit Überzeugung mittragen.
In diesem Sinne
Eure Tugendvogel Redaktion
Minderheitenschutz zum Nachlesen
- Recht auf Gleichstellung (Art. 3 GG)
- Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG) – leicht erklärt
- Blaue Augen Braune Augen – Das Experiment
- ilevel – Das Jugendprojekt gegen Diskriminierung mit niedrigschwelliger Broschüre, die alles erklärt, rund ums Thema
- Schwarzfahrer – Oscar-prämierter Kurzfilm von Pepe Danquart
- Sozialexperiment – Rassismus im Bus (Quarks)