Die Nachrichten überschlagen sich aktuell mit den kuriosesten Theorien. Es ist ein Phänomen einer vielfältigen Gesellschaft, dass nach einer langen Zeit der gemeinsam getragenen Einschränkungen, in der alle eine zielgerichtete Anstrengung in Sachen Solidarität erbracht haben, sich nun das Prinzip einer freiheitlich denkenden Demokratie, in der jede*r daran gewöhnt ist ein Individuum sein zu dürfen, sich dieses Prinzip nun stärker als zuvor Bahn bricht. Wir haben das Glück, dass wir nicht unser Leben lang gleich denken müssen, sondern unseren Gedanken und Theorien freien Lauf lassen dürfen. Wir dürfen an einen allmächtigen Schöpfer glauben oder an die Macht des Geldes, wir dürfen die Theorien von großen Wissenschaftlern für richtig halten oder jene beklatschen, denen wir besonders vertrauen. Das ist das Grundprinzip des Artikels 4.1.
Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und
weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich.
All das lässt unser Grundgesetz zu und um diese Freiheit beneiden uns viele Länder, in denen nur noch die Gedanken, ungehört im eigenen Kopf, frei sind. Art. 4 beschreibt einen besonderen Wert, der die tiefste Individualität jedes*r Einzelnen respektiert, wir uns in Gruppen von Gleichgesinnten wiederfinden dürfen und dann gemeinsam Gesellschaft gestalten können.
Wir sehen aber auch, was das mit einer Gesellschaft aktuell macht – wie wir streiten, argumentieren, rufen und demonstrieren. Es entbrennt schon fast ein Glaubenskrieg zwischen Impfgegner*innen und Impfbefürworter*innen, zwischen jenen, die überzeugt sind, die Wahrheit aufgedeckt zu haben und jenen, die mit Fakten dagegen halten. Historisch gab es das schon immer: Den Kampf um die Wahrheit. Er war nur anders verpackt. Die Stärke einer Demokratie ist es, diese Freiheit zuzulassen und daraus den besten Weg gemeinsam zu verhandeln. Dazu braucht es Geduld, um zuzuhören, Respekt vor den Bedürfnissen der anderen und die Bereitschaft das eigene Weltbild offen zu halten.
Wir haben das über Jahrhunderte gelernt: Interreligiöser Dialog war ein langwieriger Prozess, der uns Frieden und Verständnis für die Sichtweisen des Gegenübers beschert hat. Er steht immer wieder auf der Kippe, muss neu gerettet und verhandelt werden, um für die Gesellschaft das Beste zu erwirken. Das Pochen auf Fakten hat im interreligiösen Dialog nur Gräben vertieft. Das Wollen eines friedlichen und respektvollen Miteinanders war am Ende die Brücke, die die Unterschiede im Glauben überwunden und die Freiheit der religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisse gewährleistet hat.
Das gemeinsame Ringen für das Beste für alle mag hart sein, aber lohnenswert.
In diesem Sinne, Dein Tugendvogel-Redaktionsteam
Glaubensfreiheit im Gesetz
- Glaubens- und Religionsfreiheit Art. 4 GG
- Gewissens- und Religionsfreiheit Art. 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte
- Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit Art. 9 der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten